Dankesbrief an einen Baum

Seit fast neun Jahren leben wir nun schon in einer Gemeinschaft, der Baum und ich. Früher hab ich ihn „nur“ wahrgenommen. Er steht im Zentrum des Gartens, gehört schon von Anfang an zu diesem Haus. Von jedem Fenster, sowie von meinem Balkon aus, kann ich ihn sehen. Auch fast alle anderen Mitbewohner haben diesen Blick zu ihm. Im letzten Jahr aber, da geschah etwas. Aus einem „Einfach-nur-Wahrnehmen“ ist eine tiefe Beziehung entstanden. Dieser Baum ist nun mein Herzensfreund.

Und jetzt? Unser Haus wird renoviert, auch der Garten und sie wollen meinen Freund, der vollkommen gesund ist, umschneiden. Er muss einer neuen Gestaltung weichen. Es war ein großer Schock für mich, wie ich das erfahren habe und es macht mich traurig.

Auch jetzt, wenn ich dies schreibe, sehe ich immer wieder hin zu ihm.

Der Winter hat lange gedauert und er beginnt gerade aus dieser Ruhezeit zu erwachen. Unzählige kleine Knospen entstehen und die Wärme treibt dieses Geschehen noch mehr voran.

Jedes Jahr aufs Neue, freue ich mich auf dieses Beobachten! Tag für Tag kann man diese Kraft erleben, die sich da auftut. Plötzlich wird aus der kleinen Knospe, ein zartes Blatt. Welch ein Wunderwerk der Natur! Immer wieder setzen sich fröhlich zwitschernde Vögel auf seine Äste. Es ist so viel Lebendigkeit und Lebensfreude zu spüren. Wenn dann der ganze Baum in voller Pracht mit all seinem satten Grün dasteht, hab ich immer wieder das Gefühl, noch besser atmen zu können und dass sich in meinem Inneren immer mehr Ruhe ausbreitet, die mir ganz viel Kraft spendet.

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Schon als Kind hab ich mich total hingezogen gefühlt zu Bäumen, hab gern unter ihnen gespielt oder verbrachte viel Zeit mit anderen Nachbarskindern im Wald. Manchmal dachte ich, dass mich ein Baum anlächelt und wir haben oft versucht, Gesichter in den Baumrinden zu erkennen. Sie gehörten zu uns, wie wir zu ihnen. Eine wunderbare Einheit, die sich gegenseitig unterstützt, so hab ich es damals gespürt.

Ich glaub, dass wir als Kinder viel tiefer erkennen, wie sehr wir die Natur brauchen. Sie braucht nicht UNS, im Gegenteil! Der Mensch hat leider viel zu viel eingegriffen und zerstört. Doch Gott sei Dank ist die Natur stark genug und findet neue Wege.

Auf das vertraue ich und bin voller Hoffnung, dass sich nächste Generationen, immer mehr darauf besinnen. Ich erlebe es in meiner Umgebung, wie junge Menschen sich danach sehnen, die Natur, unsere Umwelt zu erhalten, sie mit ihr und in ihr leben möchten. Es gibt viele interessante Bewegungen in diese Richtung. Vielleicht ist diese Zeit, die wir gerade durchleben, ein Wendepunkt. Das wäre immerhin eine große Chance, damit wir alle überleben.

Die Forschung widmet sich auch immer mehr den Bäumen und beinahe jeder weiß inzwischen, was für eine Wohltat sie für uns Menschen sind und wie viel sie zu mehr Gesundheit beitragen, unser Immunsystem stärken und sogar heilend sind. Waldbaden ist in aller Munde. Bäume kommunizieren miteinander und helfen sich gegenseitig.

Das alles fasziniert mich! Diese Kraft selber wahrzunehmen, macht mich demütig und erfüllt mein Herz mit tiefer Dankbarkeit für die Schöpfung.

Was ist aber nun mit meinem Freund? Mein Herz schmerzt, wenn ich daran denke, dass die Zeit des Abschiedes naht. Ich möchte ihm heute DANKE sagen und ihm diesen Blogbeitrag widmen, ihn in den Weiten des Internets verewigen:

Mein lieber Herzensfreund!

Ich danke dir für unsere wunderschöne gemeinsame Zeit.

Jahrelang hab ich dich jeden Tag betrachtet.

Am Morgen galt mein erster Blick nach dem Aufstehen nur dir. Bei all meinen Meditationen, fand ich Ruhe durch dich. Was geschlossene Augen oftmals am Anfang nicht schafften, ein Blick zu dir, brachte die wohltuende Gedankenruhe. So lernte ich durch dich, einfach nur zu beobachten. Und da gab es bei dir immer viel! Selten standest du einfach nur da. Und wenn, dann war gerade das auch nährend.

Im Winter warst du meist mit Schnee bedeckt. Es war wunderschön, wenn die Sonne auf deinen schneeweißen Mantel strahlte. Tausende Glitzerlichter leuchteten mir entgegen. Wie kleine Diamanten, ein Traum!

Manchmal waren deine Äste einfach kahl und leer. Sie dienten den Vögeln als Zwischenstopp, wenn sie zu den kleinen Futterhäusern flogen, um sich ihre Mahlzeit zu gönnen. Wenn der Wind durch deine vielen kleinen Äste strich, hatte ich oft das Gefühl, dass du mir zuwinken möchtest. In dieser Zeit spürte ich, dass die Zeit des Winters notwendig ist, um Kraft zu tanken. Die Kraft, die die warme Frühlingssonne dir einhaucht, die dich leise wach küsst. Diese Wärme lässt Pflanzensaft durch deine Baumadern fließen. Ich war immer wieder erstaunt, wie rasch du mir jedes Jahr mit voller Blätterpracht, diesem wunderschönen saftigen Grün, entgegen lachtest.

In dieser Frühlingszeit im vergangenen Jahr, fing ich an, mit dir zu reden.

Es war der erste Lockdown und ich saß auf meinem Balkon. Deine damals noch ganz zarten Blätter spielten mit dem Wind und uns umgab eine wohltuende Stille. Dieser Moment war irgendwie „heilig“.

Ich begann, dir zu erzählen, was da gerade auf dieser Welt geschieht und dass ein ganz kleiner Winzling, unserer lieben Natur und uns Menschen eine Auszeit gönnt. Weg die vielen Kondensstreifen am Himmel, fast kein Auto zu hören und auch so .. Stille… Ich hatte sogar das Gefühl, dass die Vögel leiser sangen, sie hatten es wohl auch bemerkt, was da für eine Veränderung vor sich ging. Was viele Menschen vorher probiert hatten zu erreichen, dieser kleine Virus hat es innerhalb kürzester Zeit geschafft. Die Welt stand beinahe still.

Ich erzählte dir alles, wirklich alles. Das, was da draußen los war, aber mit der Zeit immer mehr, was in meinem Innersten hoch kam. Und das war ziemlich viel! Du standest da und hörtest mir zu. In all den Jahren, bist du mir so vertraut geworden, aber durch mein Sprechen zu dir, ging mein Herz stetig weiter auf. Mal für Mal bekam ich von dir Rückmeldungen, kleine Zeichen. Ich hab sie immer besser verstehen gelernt und bin dir so unsagbar dankbar, dass du meine Seele so gut getröstet hast. Du wurdest mein Herzensfreund und das bist du noch immer.

Mein Herz weint gerade. Ich denke an die schönen Sommermonate. Deine Blätterpracht, die Vögel, die sich in deinem Dickicht versteckten, um dann blitzschnell wieder daraus hervor zu schweben. Sie haben so viel Freude in dein und mein Leben gebracht. Das Spiel des Windes mit deinen Blättern und Ästen, der Duft deines Grüns, ein kühler Windhauch im heißen Sommer, den du mir immer wieder zu meinem Balkon geschickt hast, der Schatten, wenn ich unter dir sitzen durfte.

Der Herbst bemalte deine Blätter bunt und es war, wie wenn all die Farben hinaus in die Welt wollten, nur um uns zu sagen: Seht her! Seht ihr diese Schönheit? Lasst uns zusammen das Leben feiern, mit all seiner wunderschönen Buntheit! Jetzt! Heute! Ja heute ist der beste Tag dazu. Bald kommt der Winter. Ruhezeit. Nutzt immer das Jetzt! Der Moment jetzt, ist der Beste .. das Gestern ist vorbei, das Morgen wissen wir nicht, das Jetzt.. es zählt!

Tage gehen zu Ende. Wie jeden Abend, werde ich dir auch heute eine gute Nacht wünschen und dir danken, dass du für mich da warst, dass du mir so viel Freude geschenkt hast.

Ganz egal, ob mit Blätterpracht, Schneemantel oder in purer Nacktheit, ich habe dich genau so lieb gewonnen, wie du gerade da gestanden bist und immer noch stehst und das wird ewig so bleiben, denn in meinen Erinnerungen wirst du weiter leben. Abschiede gehören zum Leben. Sie schmerzen, auch diese Trauer darf sein. Was bleibt ist tiefe Dankbarkeit für die gemeinsame Zeit. Danke mein Herzensfreund. Danke